Tagungsbericht Bad Saarow 2018

BAD SAAROWER TAGUNG 2018

„Kommunikation im Strafverfahren“

Tagungsbericht

Am 03. und 04. August 2018 fand die zweite Sommertagung des Arbeitskreises „Psychologie im Strafverfahren“ in Bad Saarow bei Berlin statt. Wie im vergangenen Jahr war die Teilnehmerzahl auf 60 Personen begrenzt, was rege Diskussionen im Auditorium in einer kollegialen und angenehmen Atmosphäre ermöglichte. Acht interdisziplinäre Referate aus Wissenschaft und Praxis widmeten sich verschiedenen Aspekten der Kommunikation im Strafverfahren.

Einleitend richtete RA’in Dr. Jenny Lederer ein Grußwort an die Teilnehmer und berichtete von Beispielen gestörter Kommunikation im Ermittlungs- und Hauptverfahren aus Ihrer Praxis, die auf systembedingte Asymmetrien durch Definitionsmacht zurückzuführen seien.

RA Prof. Dr. Stefan Stefan König schloss sich an mit seinem Vortrag zur offenen Kommunikation im Strafverfahren. Er warf die Frage auf, ob eine formalisierte Kommunikation einen Ausweg bieten könne aus dem mit der Ausbreitung der sog. strafprozessualen Verständigung verbundenen „Dealdilemma“. Für eine sachgerechte Verteidigung müsse sich der Angeklagte informieren können über die (vorläufige) Bewertung des Beweisergebnisses durch das Gericht. Die nach geltendem Recht gegebenen Informationsquellen (Anklageschrift, Eröffnungsbeschluss, Hinweise nach § 265 StPO, Beschlüsse, mit denen Beweisanträge abgelehnt werden oder solche, mit denen Anträge auf Aufhebung eines Haftbefehls abgelehnt werden), reichten hierfür nicht aus. Das Strafverfahren sei in der Hauptverhandlung auf Dezision, nicht auf Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten über diese (vorläufige) Bewertung angelegt. In dieser Situation der mit Ungewissheit verbundenen Sprachlosigkeit sei der „Deal“ für den Angeklagten oft der einzige Weg, einen Einblick in die Vorstellungen des Gerichts vom Sachverhalt und von der danach verwirkten Strafe zu gewinnen. Im Verständigungsverfahren sei indes der Verlust schützender strafprozessualer Formen zu beklagen – parallel zu der Tendenz, die dort bestehenden Regeln aufzuweichen. Offene Kommunikation im Sinne einer Offenlegung vorläufiger Bewertungen auf Antrag des Angeklagten würde hier helfen. Allerdings sei eine solche Kommunikation auch mit Gefahren für den Angeklagten verbunden, die zu diskutieren seien. So könne eine frühe Offenlegung die Festlegung des Gerichts bedeuten oder als Drohgebärde eingesetzt werden, um den Angeklagten zu einem Geständnis zu nötigen. Ein zur Lösung des beschriebenen Dilemmas geeignetes Modell könne die Zweiteilung der Hauptverhandlung durch ein sog. Tat- oder Schuldinterlokut bieten, bei dem das Gericht einen sog. Zwischenbe- oder entscheid verkünde, durch den es seine Überzeugung von der Tat- oder auch der Schuldfrage mitteile. Wenn dieser Zwischenbescheid keinen Freispruch oder keine Einstellung vorsehe, schließe sich eine Verhandlung über das Strafmaß an. Eine derartige Regelung – wie sie etwa die schweizerische und die österreichische Strafprozessordnung vorsehe – sei bis in die 1990er Jahre des letzten Jahrhunderts in der Strafrechtswissenschaft diskutiert worden. Heute spiele diese Diskussion in Deutschland kaum noch eine Rolle – unter anderem wegen der ungeklärten Frage nach der Vereinbarkeit dieses Modells mit den Regelungen zu Verständigung. Resümierend fasste König zusammen, dass sich ein Anspruch des Angeklagten auf Offenlegung der vorläufigen Bewertung der Beweiserhebung durch das Gericht nur in begrenztem Umfang realisieren ließe. Eine Offenlegung der Einschätzung des Gerichts müsse entweder an einen Antrag oder an die Zustimmung des Angeklagten gebunden sein. Die durch § 244 Abs. 6, S. 2 bis 4 StPO eingeführte „Fristenlösung im Beweisantragsrecht“ müsse zum Ausgleich der dadurch bedingten Einschränkung rechtlichen Gehörs mit einer Offenlegung der vorläufigen Bewertung der durchgeführten Beweisaufnahme durch das Gericht verbunden werden, soweit der Angeklagte sie beantragt.

Im Anschluss wandte sich Dr. Oliver Gersson aus Passau der wahrnehmungslenkenden Funktion der Sprache im Strafprozess zu. Menschliche Erkenntnis werde von Wahrnehmungsverzerrungen überlagert, die in weiten Teilen in der Sprachabhängigkeit unseres Bewusstseins begründet lägen. Indem sie Wahrnehmung, Denken und Handeln neuronal, kognitiv und emotional verknüpfe, entfalte Sprache unmittelbare Wirkung auf das Bewusstsein des Menschen. Sie sei die psycho-sensorische Antwort des „Ichs“ auf das Wiedererkennen von Lebenswelt und das umfassende Medium, in dem sich Verständigung und Einsicht über die Sache vollzögen. Der Abgleich von Außenweltreizen und Innenweltschema, die Kognition, sei durch Emotionalität beeinflusst und damit besonders fehleranfällig. Am Ende des sprachlichen Reizverarbeitungsprozesses stünde in der Regel lediglich ein Produkt aus individueller Einbildung es Einzelnen von Wirklichkeit der Realität. Im Strafverfahren wirke sich dies nicht nur innerhalb der einzelnen Sprechakte zwischen den einzelnen Verfahrensbeteiligten aus, sondern auch beim Erstellen und Lesen von Akteneinträgen. Hermeneutische Formulierungen schafften einen „Überzeugungsduktus“, der erwünschte Ergebnisse an sich noch zu überprüfender Hypothesen vorwegnehme. Beim Rezipieren des Akteneintrages zeigten sich Perseveranz, Inertia- oder Schulterschlusseffekte, die die Verstetigung von (Vor-)Wertungen zu (Vor-)Urteilen bewirkten. Auch schließe die Sprache im Strafverfahren den Laien aus. Denn der „hermeneutische Zirkel“ öffne sich nur demjenigen, der ihn sich erschlossen habe. Sprache im Strafverfahren, so Gersson, sei gefährlich, weil die asymmetrisch angelegte Zwangskommunikation zwischen Gericht und Beschuldigtem zu einem irreparabel „zerbrochenen Diskurs“ führen könne. Der strafverfolgende Staat als übermächtiger Akteur lege Themen und Inhalte dieses Diskurses einseitig fest und entmündige den Beschuldigten, negiere seine Stellung als autonomes Subjekt. Gersson forderte, prozessuale Mindeststandarts wie die Waffengleichheit (Art. 6 EMRK, Art. 20 Abs. 3 GG), der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), die Freiheit von Täuschung und Zwang (§ 136a StPO i.V.m. Art. 1 GG), die Selbstbelastungsfreiheit (Art. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 14 Abs. 3 lit. g IbpPR) und die Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 20 Abs. 3 GG) müssten zur Wiederherstellung der kommunikativen Autonomie des Beschuldigten auf sprachlich-kommunikativer Ebene wiederentdeckt werden. Als Beispiele für teilweise bereits ergriffene legislatorische Maßnahmen nannte er eine Reform des § 257b StPO, die Einführung des sog. Opening Statements, richterliche Hinweise nach § 265 Abs. 2 StPO, den Tatrichter ohne Aktenkenntnis, die audiovisuelle Aufzeichnungen der Vernehmung im Ermittlungsverfahren und Tat- bzw. Schuldinterlokute. Im Strafprozess gehe es nicht um die Erforschung der materiellen, sondern der forensischen Wahrheit, der Beschuldigte sei als Subjekt wahrzunehmen.

In seinem sich anschließenden Vortrag warf Dr. Alexander Heinze, Göttingen, die Frage auf, ob es sich bei der Kommunikation im Strafprozess um eine Inszenierung und ein soziales Rollenspiel handele. Der narrative Charakter präge das Verfahren bis hin zum Urteil, was sich daran zeige, dass das Gericht seine Überzeugung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung schöpfe (§ 261 StPO) und § 264 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat zum Gegenstand der Urteilsfindung erkläre. Aus dem kommunikativen Vorgang der Hauptverhandlung abgeleitet als Abbild der als real empfundenen Gegebenheiten trügen die Entscheidungsgründe die Konstruktion der Wirklichkeit. Bereits an den baulichen Gegebenheiten werde die Theatralik der vor ein Kulisse, dem Gerichtssaal, stattfindenden Hauptverhandlung deutlich. Dort liefen zeitlich begrenzt rollenhaft (Richter, Staatsanwalt, Angeklagter, Verteidiger, Nebenkläger, ggf. Bewährungshelfer) bestimmte Interaktionsformen (soziale Ordnungsmuster; sprachliche Handlungstypen) nach einem Skript (StPO/StGB) ab; wobei das Medium (Mündlichkeit) und Publikum (Öffentlichkeit) mitbedacht werde. Die den Gang der Hauptverhandlung betreffenden Vorschriften gingen hierbei von einem Idealbild forensischer Kommunikation zwischen Anwesenden mit exakt festgelegten Sprechakten aus. Neben der Argumentationsanalyse, der Diskurstheorie, der Gesprächslinguistik und der Gruppenkommunikation könne die Gerichtskommunikation auf zwei Ebenen untersucht werden: Auf einem die strukturell-funktionale Aufgabenzuordnung in den Blick nehmenden Makro-Level und auf einem Mikro-Level, das die Darstellung von Rollenverhältnissen zum Gegenstand der Untersuchung macht. Eindrucksvoll schilderte Heinze auf Makro-Ebene, wie die Vernehmung des Angeklagten zur Sache in Verbindung mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz ein Einfallstor für die Ziele des Strafverfahrens biete, insbesondere der positiven Generalprävention („Du kannst der Norm vertrauen“). Erst durch diesen übergeordneten Zweck werde aus einer ausgeglichene Kommunikation ein theatralisches Rollenspiel. Unter dem Aspekt sozialer, politischer und kultureller Bedeutung sprachlicher Systeme auf der Mikro-Ebene erscheine Gerichtssprache als Ritual. Auch hier zeigten sich bei der Vernehmung des Angeklagten sprachliche Asymmetrien. Sie ergäben sich zunächst aus der „Kommunikationsbereitschaft“ (abgesichert durch den Anspruch auf rechtliches Gehör, Art.103 Abs. 1 GG) auf der einen und „Prozess der Verständnisbildung“ auf der anderen Seite. Die Gestaltung dieser Kommunikation sei regelmäßig repressiv, da der Angeklagte regelmäßig „echte“ Äußerungen unterdrücke, um bei anderen Prozessbeteiligten nicht einen „falschen Eindruck“ zu erwecken. Das StGB nutze in semantischer Hinsicht umgangssprachliche Begriffe und schreibe ihnen spezifisch juristische Bedeutungen zu, was zu Verständnisproblemen auf Seiten des Angeklagten führe, die er aber regelmäßig seinem Wunsche nach Anpassung folgend nicht aufkläre. Zwar könne Mittel zur Heilung der „zerbrochenen Kommunikation“ kein ungezwungener Diskurs im Sinne eines herrschaftsfreien Dialogs sein, an dessen Ende man sich auf ein Ergebnis einige. Allerdings seien Anleihen aus dem Strafprozess des Common Law und eine Stärkung der Parteienrolle eine Möglichkeit, die Sprecher-Asymmetrien abzuschwächen.

Aus dem Auditorium kam in der sich anschließenden Diskussion der Hinweis, dass auch die Anwaltschaft durch eine allzu juristische und komplizierte Sprache eine Kommunikation auf Augenhöhe verhindere, allzu oft werde über und nicht mit dem Angeklagten gesprochen. Geargwöhnt wurde, dass ein Kollegialgericht sich nach Stellung eines Antrages auf Mitteilung seiner vorläufigen Bewertung der Beweisaufnahme regelmäßig darauf zurückziehen werde, es berate noch und könne daher nichts mitteilen. Hier sei an die Einführung eines Sanktionsmechanismus zu denken, der allerdings nicht mit dem Beratungsgeheimnis kollidieren dürfe. Vermittelnd wurde vorgeschlagen, entsprechende Anträge nicht auf eine Vorabwürdigung, sondern ein zusammenfassendes Diktat der zuvor durchgeführten Beweisaufnahme in das Hauptverhandlungsprotokoll, zu richten.

Sodann hielt Dr. Helen Wyler, Birmingham, einen hochinteressanten Vortrag zu Befragungsmethoden und Erkenntnisgewinn im Strafverfahren aus psychologischer Sicht. Sie zeigte zunächst die generellen Ansätze der Einvernahme, namentlich die übliche konfrontative Befragung und die informationssammelnde Befragung auf. Die konfrontative Befragung sei geständnisorientiert, kontrollierend und manipulativ, arbeite mit geschlossenen Fragen und enthalte immer die (implizite) Warnung vor den Folgen eines Abstreitens. Problematisch sei, dass sie regelmäßig zu falschen Geständnissen führe. Eine Alternative biete die informationsorientierte, sog. Informationssammelnde Befragung, in deren Rahmen durch die neutrale Haltung des Befragenden, aktives Zuhören und Blickkontakt eine Beziehung zu dem Befragten aufgebaut werde. Kennzeichnend seien hierbei offene Fragen und ein freier Bericht des Befragten, an den sich ggf. eine Diskussion der Unstimmigkeiten anschließe. Das Befragungsklima führe regelmäßig zur Kooperation, einem verbesserten Informationsabruf auf Seiten des Befragten und zur optimalen Nutzung von Beweisen. Es ergäben sich mehr verbale Glaubhaftigkeitshinweise und Geständnisse seien häufiger realitätsbasiert. Im Vereinigten Königreich werde diese Befragungsmethode sowohl bei der Befragung von Tatverdächtigen als auch von Zeugen seit den 1980er Jahren erfolgreich angewandt. Die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge etwa im Rahmen einer Befragungssituation falle dem Menschen schwer, die „Trefferquote“ liege hier im Durchschnitt bei Normalbürgern bei 54 % und steigere sich bei professionell befragenden Personen lediglich um zwei auf 56 %. Ursache hierfür sei möglicherweise, dass es zu wenig Hinweise gebe, anhand derer sich Lügen zuverlässig erkennen ließen. Als Strategien zum Auffinden insbesondere verbaler Hinweise komme etwa in Betracht, die bei einer Lüge ohnehin vergleichsweise hohe kognitive Belastung zu erhöhen. Dies könne durch die Aufforderung an den Befragten geschehen, das Erlebte in umgekehrter Reihenfolge zu erzählen oder ihm unerwartete Fragen zu stellen, die die Planung betreffen und einen zeitlichen bzw. räumlichen Bezug haben. Durch ein Animieren zum detaillierten Erzählen und ein Ausschließen von Alternativerklärungen (Strategische Nutzung von Evidenz) würden mehr nachprüfbare Details produziert und die Möglichkeit erhöht, den Befragten zu widerlegen. Einer Studie zufolge habe die Anwendung dieser Strategien die „Trefferquote“ signifikant auf durchschnittlich 74 % erhöht. Probleme der Rechtmäßigkeit dieser Befragungsstrategien nach der StPO sah Wyler nicht. Wenngleich eine sog. Baseline als Vergleichswahrheit (wie verhält sich die befragte Person normalerweise?) schwer zu etablieren sein, seien die neueren Befragungsstrategien wegen der verbesserten Differenzierungsmöglichkeit „Lüge vs. Wahrheit“ zu begrüßen.

Es folgte der Vortrag von RA Dr. Ali B. Norouzi, Berlin, der danach fragte, ob es im Strafverfahren einen formalisierten Dialog durch Beweisanträge und Gerichtsbeschlüsse gebe. Norouzi verortete das Beweisantragsrecht zunächst zwischen den Topoi Macht, Wahrheitssuche, Wissen. Durch einen Beweisantrag veranlasse die Verteidigung den Tatrichter dazu, die Beweisaufnahme über das aus seiner Sicht Notwendige hinaus auszudehnen, dadurch werde seine Machtstellung im Prozess erschüttert. Der Beweisantrag enthalte Weichenstellungen zur Art und Weise der Wahrheitssuche und diene dem Abschichten von Wissenssphären. Ein Transfer von (Beratungs-)Wissen des Gerichts finde allenfalls im Falle der Ablehnung eines Beweisantrages statt. Disziplinierend wirke dabei, dass der Tatrichter um die revisionsgerichtliche Überprüfung wisse. Gehe er dem Beweisantrag nach, verliere dieser indessen jegliche Relevanz sowohl für die Revision als auch für die Erkenntnisse der Verteidigung über den Beratungsstand. Darum sei das Bild eines formalisierten Dialogs schief. Denn der entscheidende Dialog-Partner, das Gericht, habe die Fortführung des „Gesprächs“ allein in seiner Hand. Mit dem Bild vertrage sich auch nicht das Austauschen des Ablehnungsgrundes der „Wahrunterstellung“ mit dem (höhere Begründungsanforderungen zeitigenden) Ablehnungsgrund der „Bedeutungslosigkeit“ erst in den Urteilsgründen. Um den Wissensstand der Verteidigung beizubehalten, seien hier Hinweispflichten sinnvoll. Schließlich stelle auch das nunmehr durch § 244 Abs. 6 S. 2 bis 4 StPO ermöglichte Fristenmodell mit dem Monitum des Gerichts, die Verteidigung habe einen Beweisantrag auch früher stellen können, einen Eingriff in die Verteidigungssphäre dar. Nach alledem gebe es, so Norouzi resümierend, keinen formalisierten Dialog, den die Verteidigung steuern könne.

Im Anschluss referierte RiBGH Prof. Dr. Christoph Krehl, Karlsruhe, aus revisionsrichterlicher Sicht zur Frage des formalisierten Beweisantrags- und Beschlussdialoges, wobei er sich zunächst der verfassungsrechtlichen Grundlagen annahm. Die im Beweisantragsrecht zum Ausdruck kommende Subjektstellung des Angeklagten sei Ausfluss des Art. 1 Abs. 1 GG, weshalb die Aufklärungspflicht des Gerichts nicht disponibel und keinen Dealmöglichkeiten unterworfen sei. Zentral sei in diesem Zusammenhang der Anspruch auf rechtliches Gehör des Angeklagten gemäß Art. 103 Abs. 1 GG: Dieser habe zwar ein Recht auf Information, allerdings keinen Anspruch darauf, die vorläufige Bewertung der Beweisaufnahme durch das Gericht zu erfahren. Er könne auf die gerichtliche Entscheidung durch Beweisanträge Einfluss nehmen, wobei aus verfassungsrechtlicher Sicht eine Fristsetzung unbedenklich sei. Demgegenüber habe das Gericht eine Pflicht zur Kenntnisnahme und Erwägungspflicht. Sofern kein gesetzlicher Ablehnungsgrund vorliege, zwinge der Beweisantrag zur Beweiserhebung, daneben habe der Angeklagte und seine Verteidigung das Recht, sich nach jeder Beweiserhebung zu äußern, § 257 Abs. 2 StPO. Ein Recht des Angeklagten darauf, durch Anträge den Standpunkt des Gerichts zu erfahren, bestehe indes nicht. Die Gründe für die Ablehnung eines Beweisantrages seien in dem entsprechenden Beschluss zu dokumentieren, um einen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten und dem Angeklagten zu ermöglichen, sich auf die geänderte Verfahrenslage einzustellen. Ein solcher Beschluss habe im Wesentlichen Informationsfunktion, mangels eines Wechselspiels zwischen Beweisantrag und Beschluss könne es einen wirklichen Dialog nicht geben. Die in einem Beschluss transportierten Informationen schafften Vertrauen beim Angeklagten, dessen Enttäuschung – anders als bei „bloßen Hinweisen“ – revisibel sei. Art. 103 Abs. 1 GG verhindere ferner, dass, wenn ein Beweisantrag mit einer beweisthemenbezogenen Begründung abgelehnt werde, dieser Ablehnungsgrund erst im Urteil ausgetauscht werde. Darüber hinaus existiere nach der gefestigten Rechtsprechung des BGH keine Hinweispflicht, die Ablehnung begründe keinen Vertrauenstatbestand. Weil hiernach allenfalls auf Seiten des Antragstellers Verhaltenspflichten entstünden, nicht aber auf Seiten des Gerichts, gebe es auch keinen formalisierten Dialog zwischen ihnen. Insofern täusche der Begriff darüber hinweg. dass die Strafprozessordnung dergleichen nicht vorsehe.

Aus dem Auditorium wurde angemerkt, dass es zwar im Rahmen des „Deals“ (§ 257c StPO) einen Dialog mit Gericht und Staatsanwaltschaft gebe, dieser indessen stets ein Geständnis zur Voraussetzung habe. Hier wurde der Wunsch laut, einen Dialog auch unabhängig davon zu ermöglichen.

Der zweite Tagungstag begann mit einem Referat von Prof. Dr. Günter Köhnken aus Kiel zur Kommunikation zwischen (Psycho-)Sachverständigen und den juristischen Verfahrensbeteiligten im Strafprozess aus Sicht des Sachverständigen. Eingangs unterstrich er, dass es zu seinem Vortragsthema keine repräsentativen Daten aus empirischen Untersuchungen gebe und er von seinen subjektiven Erfahrungen als Gutachter berichte, die er fast ausschließlich in Strafverfahren im Rahmen aussagepsychologischer Begutachtungen gemacht habe. Als die Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten entscheidend beeinflussende Frage identifizierte Köhnken, wie er in das Verfahren gekommen sei – aufgrund einer Bestellung durch das Gericht oder nach § 220 StPO durch die Verteidigung. Eine Bestellung durch die Verteidigung habe nicht selten zur Folge, dass er von Staatsanwaltschaft und Nebenklage als „Erfüllungsgehilfe“ oder „hired gun“ wahrgenommen und entsprechend behandelt werde. Denn Ausgangspunkt sei in dieser Konstellation ja immer, dass das Erstgutachten handwerkliche Fehler aufweise, er diese Fehler auf Betreiben der Verteidigung aufzeige und ihnen etwas entgegensetze. Aber auch die Gerichte seien spürbar nicht immer begeistert, wenn er als Sachverständiger eine methodenkritische Stellungnahme zu einem vorhandenen Gutachten vortrage. Das sei insoweit nachvollziehbar, als ein Gericht das Erstgutachten regelmäßig für gut befunden habe und sich nun mit einem weiteren Gutachter auseinandersetzen müsse. Er habe erlebt, dass ihm als von der Verteidigung geladenem Sachverständigen kein Fragerecht eingeräumt worden sei. Berührt werde die Kommunikation auch von dem Aspekt der gegenseitigen Verständlichkeit. Juristen und Psychologen hätten nicht nur ein anderes Verständnis von bestimmten Begriffen, sie dächten teilweise auch sehr unterschiedlich. Ein psychologischer Sachverständiger denke häufig in Wahrscheinlichkeiten und nicht in „alles-oder-nichts“-Kategorien, was zu Unverständnis auf Seite der Juristen führen könne. Umgekehrt erschwerten prozessuale Zwänge und Gepflogenheiten dem Sachverständigen bisweilen die Arbeit. So erhalte der Sachverständige in der Regel als letzter die Gelegenheit, Fragen an Zeugen zu stellen. Das Aufbauen einer Beziehung zum Befragten und eine gute Gesprächsatmosphäre seien indes essenziell für das Gelingen einer Befragung, bei der man auf viele zutreffende Antworten hoffen könne. Der späte Einstieg des Sachverständigen in die Befragung mache es diesem nahezu unmöglich, eine eigene Befragungsstrategie zu verfolgen. Oft würden Fragen, die er formuliere, um einen Zusammenhang zu bereits angesprochenen Themen herzustellen, als bereits beantwortet zurückgewiesen.

In der sich anschließenden Diskussion wurde die Verteidigung dazu ermuntert, eine geänderte Befragungsreihenfolge zu beantragen. Daneben gebe es die Möglichkeit, sich mit dem Gericht darauf zu einigen, das Fragerecht nach dem freien Bericht des Zeugen freizugeben und erst im Anschluss mit der vertiefenden Befragung durch den Vorsitzenden fortzufahren. Aus dem Kreis der Teilnehmer*innen wurde schließlich angemerkt, dass der sistierte Sachverständige ebenfalls zur Erstattung seines Gutachtens nach bestem Wissen und Gewissen verpflichtet und insoweit das beschriebene Misstrauen mancher Gerichte nicht nachvollziehbar sei.

Die Tagung schloss mit einem Referat des VRiBGH a.D. Thomas Fischer aus Karlsruhe, das die Kommunikation zwischen Psycho-Sachverständigen und den juristischen Verfahrensbeteiligten aus Sicht des Juristen zum Gegenstand hatte. Der Strafprozess diene, so Fischer, der Definition, Erforschung und legitimen Feststellung der Wahrheit über vergangene Ereignisse. Wenngleich das System des Strafrechts weitestgehend außerhalb rechtlicher Symbolik liegende Sinnzusammenhänge ausblende, benötige es für seine Legitimität zahlreiche zahlreiche Verbindungen zum Außen. Die wichtigsten seien hierbei solche, die sich mit den Ursachen, Bedingungen und Eigentümlichkeiten von Motivation befassten. Die Integration dieser Wissenschaften in den Strafprozess sei von enormer Bedeutung. Denn neben der Wahrheit sei Gewaltverteilung, Staatslegitimation und Rechtsfrieden gleichberechtigte Gründe für die Durchführung eines Strafprozesses. Regelmäßig gehe es bei der Hinzuziehung des psychiatrischen Sachverständigen um die Abgrenzung von Eigenverantwortlichkeit und Schicksal. Diese Feststellung sei normativ und Ergebnis einer gesellschaftspolitischen Entwicklung. Problematisch seien die unterschiedlichen Sprachsysteme: In Medizin und Psychiatrie gebe es Kategorien wie Schuld und Unschuld nicht. Diese Begriffe müssten übersetzt werden, es bleibe immer ein Rest von Dezisionismus und Ungenauigkeit. Der medizinisch-psychiatrische Sachverständige solle nicht über Schuld oder Schuld entscheiden sondern über Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, wobei diese Abgrenzung den Beteiligten oft nicht leicht falle. Klassifikationssysteme für medizinische Diagnosen wie die ICD-10 könnten unmittelbar nichts abschließendes über die Steuerungsfähigkeit eines Angeklagten sagen, sondern nur darüber, ob möglicherweise ein Krankheitsbild vorliege, dass die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit beeinträchtige. Anders als Sachverständige anderer Disziplinen, würde von Psychosachverständigen verlangt, sich von ihrer Fachsprache zu entfernen. Umgekehrt trauten sich Juristen bei keiner anderen Wissenschaft so viel Urteilsvermögen zu. Hier herrschten zu geringe Kenntnisse und zu viele Alltagstheorien. Auch die Frage, auf welcher Grundlage ein Gutachten erstattet worden sei, werde zu selten überprüft. Insgesamt entstehe so eine asymmetrische Gesprächssituation. Hier müssten gemeinsame Modelle unter Verwendung wechselseitig verstandener Begriffe entwickelt werden – Modelle des Sprechens, Erinnerns, Rekonstruierens. Erforderlich sei auf Seiten der juristischen Beteiligten eine vertiefte Beschäftigung mit den Sachfragen der jeweiligen Disziplin.

Die Veranstaltung bot wie im vergangenen Jahr Gelegenheit zum fächerübergreifenden Austausch und ein Arbeiten in kollegialer und konzentrierter, aber entspannter Atmosphäre. Neben den theoretischen Grundlagen und Bedingungen von Kommunikation im Strafverfahren lieferten Vorträge und Diskussionen praktische Anregungen, wie den Gefahren von Misskommunikation begegnet werden kann.

Rechtsanwalt Nicolas Baum, Berlin

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